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Meinung
Vorteile sehen, Chancen nutzen: Europa am Wendepunkt der Integration
Der 23. Juni 2016 war für uns Europäer und die EU ein trauriger Tag. Für das (noch) Vereinigte Königreich ist das Brexit-Votum hingegen der Beginn einer noch viel negativeren Entwicklung, deren Auswirkungen bereits jetzt spürbar sind. Der bevorstehende britische EU-Austritt ist die Konsequenz einer Entscheidung, die – wie jetzt erkannt wird – mit Lügen und faktenfreiem Populismus erreicht wurde. Gespräche über das künftige Verhältnis von EU und Vereinigtem Königreich können erst beginnen, wenn die britische Regierung auf Basis von Artikel 50 des EU-Vertrags das Austrittsverfahren einleitet. Eine lange Hängepartie wäre für alle Seiten eine politische und wirtschaftliche Katastrophe.
Derweil laufen sich in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten die Euroskeptiker warm. Wir Pro-Europäer stehen daher in der Pflicht, politischer Dummheit und historischer und ökonomischer Ignoranz den Spiegel vorzuhalten. Die EU ist das Beste, was Deutschland und dem gesamten Kontinent passieren konnte! Nie zuvor gab es eine längere Friedensperiode in Europa, nie lebten unsere Bürger in solch einer freien Gesellschaft, und wirtschaftlich und sozial ging es uns auch dank des Binnenmarktes niemals besser als jetzt – den Krisen der vergangenen Jahre zum Trotz.
Dennoch muss sich etwas ändern. Wir benötigen dringend Reformen, die zu einer EU führen, die das bietet, was unsere Bürger und Bürgerinnen erwarten. Die Flüchtlingsströme etwa haben wir teilweise in den Griff bekommen, die Ursachen hierfür und die Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft aber längst nicht. Und der Binnenmarkt funktioniert zwar gut, ist aber bei Weitem nicht vollendet: Insbesondere beim Thema Digitalisierung hängt Europa hinterher – dabei ist die Gestaltung des Digitalen Binnenmarktes eine unserer derzeit wichtigsten Aufgaben. Im Kampf für innere und äußere Sicherheit, die nur gemeinsam gewährleistet werden kann, muss die EU mehr liefern. Dafür ist es aber nötig, dass Mitgliedstaaten ihre Blockade aufgeben. Die Verträge bieten große Spielräume für Reformen und müssen besser genutzt werden, zumal die EU hier auch bei den Menschen punkten könnte.
Um unsere Herausforderungen bewältigen zu können, ist ein effizienteres, unbürokratisches und bürgernäheres Europa notwendig. Wir alle – die Politik und Medien, aber auch Wirtschaftsverbände wie der ZVEI – tragen große Verantwortung und müssen uns noch mehr anstrengen, den Menschen in unserem Land die Vorteile der EU bewusst zu machen. Europa ist keineswegs gescheitert, wie jetzt viele behaupten. Im Gegenteil: Einen besseren Weg gibt es nicht; auch England wird dies bald feststellen. Dann bleibt die EU zusammen, damit wir in der globalen Welt bestehen können. Und dann erkennt vielleicht auch London, dass ein Vereinigtes Königreich in einem geeinten Europa im britischen Interesse ist.
Elmar Brok
Mitglied des Europäischen Parlaments
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