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Schlaglicht
Wirtschaftliche Integration in der EU
Das europäische Projekt war von Beginn an vor allem als Prozess hin zu einer weitreichenden wirtschaftlichen Integration der EU-Mitgliedsländer angelegt. Ganz im Sinne der Schuman-Erklärung von 1950 soll der Integrationsprozess sicherstellen, dass Kriege in Europa nicht nur unvorstellbar, sondern regelrecht unmöglich werden. Zentraler Bestandteil einer tiefen ökonomischen Einbindung aller sind die vier Freiheiten, also der barrierefreie Austausch von Gütern und Dienstleistungen, uneingeschränkter Kapitalverkehr sowie die Personenfreizügigkeit.
Hinter dem Brexit-Votum Großbritanniens steckt die Vorstellung, man könne irgendwie doch auch beides haben, sowohl den möglichst freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt als auch die Rückgewinnung der nationalen Kontrolle über die Migration. Tatsächlich laufen die das Heckscher-Ohlin-Außenhandelsmodell erweiternden Arbeiten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul A. Samuelson darauf hinaus, dass wirtschaftliche Integration nicht unbedingt auch die Migration von Arbeitskräften voraussetzt. Indem hier nämlich der Handel mit Endprodukten dafür sorgt, dass sich die Preise grenzüberschreitend ausgetauschter Güter angleichen, nähert sich auch die Entlohnung der Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) in den jeweiligen Ländern an. Kurz: Allein Freihandel reiche aus, um Lohnangleichungen zu bewirken. Dazu bedürfe es keiner Arbeitnehmermobilität.
Neuere Außenhandelsmodelle deuten allerdings an, dass die Dinge ganz so einfach dann doch nicht liegen. So braucht es mehrere Voraussetzungen für konvergierende Einkommen, nicht zuletzt einen ähnlich modernen Stand an Technologie. Hierfür spielen u.a. Skaleneffekte, supranationale Normen und Standards oder der Wissensfluss – und damit aber eben auch die Migration von Arbeitskräften – eine Rolle.
Der ungarische Ökonom Bela Balassa hat bereits 1961 argumentiert, wirtschaftliche Integration sei erst dann erreicht, wenn alles beseitigt ist, was Barrieren schafft und Diskriminierung hervorruft. In dieser Lesart ist ein Freihandelsabkommen ein Schritt hin zur wirtschaftlichen Integration, aber eben nur ein Schritt. Ein gemeinschaftlicher Außenzoll, ein gleicher interner Standard oder eine harmonisierte Regulierung sind weitere Schritte, reichen je allein aber nicht aus.
Eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit wirkt diskriminierend und stellt insoweit ein Hemmnis für den Integrationsprozess dar. Ein polnischer Arzt kann einen englischen Patienten nun mal nicht in seiner Praxis in Polen behandeln. Das muss er schon direkt vor Ort tun (können). Sonst wird der Wettbewerb behindert. Wo die Arbeitsmobilität eingeschränkt ist, da werden auch weniger grenzüberschreitende soziale Beziehungen und Netzwerke geknüpft, die für eine wirtschaftliche Integration ebenfalls bedeutsam sind.
Ohne alle vier Freiheiten ist eine wirkliche wirtschaftliche Integration innerhalb der EU also nicht zu haben. Insoweit ist es folgerichtig, dass den Briten signalisiert wurde, sie seien weder teil- noch verhandelbar.
Ihr Ansprechpartner:
Dr. Andreas Gontermann
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